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Öffentlich-rechtlicher Lektor über Non-Fiction-Einreichungen

Non-Fiction: Qualitätsschere geht auseinander

Von manchen Medienberufen weiß man gar nicht, dass es sie gibt, bis sie einem tatsächlich begegnen und so ihre Existenz beweisen. Lektoren im Literaturbetrieb sind allgemein bekannt – von Lektoren im Dokumentarfilm wird man deutlich weniger gehört haben. Wir haben für die Ausgabe 7-8/2016 mit einem über seinen Berufsalltag gesprochen.

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(Bild: Uwe Agnes)

Film & TV Kameramann: Eine Voraussetzung für dieses Gespräch war die Tatsache, Ihre Identität nicht offenzulegen. Warum ist das so?

Wenn es mein Hauptberuf wäre, als Lektor zu arbeiten, dann wäre das nicht so. Aber ich bin neben meiner Lektorentätigkeit auch noch Filmemacher und Produzent und dort zum Teil auf die Kooperation mit anderen Produzenten und Filmemachern angewiesen, die, wenn sie wüssten, dass ich ihre Projekte vielleicht schon ein paar Mal negativ bewertet habe, dann nicht so gerne mit mir zusammenarbeiten würden. Deshalb will ich mit meinem Lektoratsjob am besten inkognito bleiben. Es lässt sich über die Jahre natürlich nicht verhindern, dass es ein paar Leute gibt, die wissen, dass ich diese Lektoratstätigkeit mache. Vor allem, wenn Einreichungen erfolgreich sind und koproduziert werden, bekommt die Branche das dann schon mit. Trotzdem halte ich mich da möglichst bedeckt, um mir in dieser kleinen Szene – denn der Dokumentarfilmbereich ist ja eine kleine Welt – keine Feinde oder zumindest Kontrahenten zu machen. Der andere Grund ist, dass wir auch nicht möchten, dass Filmvorschläge anstatt in der Redaktion direkt bei mir eingereicht werden, und dann in der Folge auch Druck auf mich ausgeübt wird, den Vorschlag positiv zu bewerten. Alle Einreichungen sollen immer zentral an die Redaktion gehen und die entscheidet dann, was ins Lektorat kommt und was nicht. Da gibt es ein klares Procedere, das wir gerne einhalten möchten.

Für welchen Sendeplatz arbeiten Sie?

Ich arbeite für die Doku-Abteilung eines öffentlich-rechtlichen Senders und beschäftige mich vor allem mit Dokumentarfilmen, also das, was im Englischen „Creative Documentary“ heißt. Dabei geht es meist um gesellschaftspolitische Themen, aber auch Portraits oder investigative Dokumentarfilme sind möglich – da haben wir relativ viel Spielraum.

Wie sind Sie an diesen Job gekommen?

Ich habe nach meinem interdisziplinären Studium im Nordamerikaprogramm mit Schwerpunkt Politik ein journalistisches Projekt in Afrika angefangen, das in einen 90- minütigen investigativen Dokumentarfilm gemündet ist, den ich selber produziert habe. Am Anfang noch mit Kollegen, später dann alleine, auch weil das Projekt einfach sehr lange gedauert hat. Mit diesem Projekt bin ich am Ende – schon in der Postproduktions-Phase – zu einem Sender und fand dort eine Redakteurin, die sich für den Film interessierte. Letztlich habe ich den Film dann mit ihr fertiggestellt. Kurz darauf hat sie mir einen Freelance-Job angeboten, der dann unter anderem auch Lektorat eingeschlossen hat, weil sie sehr beeindruckt war, wie ich arbeite, wie ich die Hierarchien im Sender verstehe, aber auch Projekte einschätzen kann. Das fand sie irgendwie gut. Ich habe dann am Anfang eigentlich alles gemacht: Festivalbetreuung, Pressearbeit, aber eben auch Lektorat und Producing. Mittlerweile hat sich das sehr auf das Lektorat fokussiert. Das kam also alles über mein erstes Filmprojekt zustande.

Wie genau sieht Ihre Tätigkeit aus?

Ich habe jetzt keine genauen Statistiken, aber wir haben Hunderte von Einreichungen im Jahr. Das geht von Kurzexposés bis hin zu fertigen Filmen – von der ersten groben Idee, ein Filmprojekt zu machen, bis zu einem sendefertigen Dokumentarfilm, der uns von einem Weltvertrieb angeboten wird. Wir haben durchschnittlich ein bis zwei Lektoratssitzungen im Monat. Dort besprechen wir jedes Mal zwischen 20 und 40 Projekte. Das sind die Einreichungen, die ich sichte. Darüber hinaus gibt es aber auch noch Projekte, die von der Redaktion direkt abgesagt werden, ohne ins Lektorat zu gehen, weil die Entscheidung ziemlich klar ist, zum Beispiel, wenn etwas Ähnliches schon gemacht wird. Wir haben keine offizielle Statistik, aber man kann schon mit insgesamt 50 Projekten im Monat rechnen, die wir da sichten, die aber einen sehr unterschiedlichen Umfang haben. Es ist wirklich eine Riesen- Bandbreite an Material, was uns angeboten wird.

Was hat Sie für Ihre Lektoratstätigkeit qualifiziert?

Die Arbeit eines Lektors ist sehr komplex, wie ich finde. Zum einen profitiert die Redaktion von meinen mehr als zehn Jahren Berufserfahrung als preisgekrönter Journalist, Regisseur und Produzent. Hierdurch bin ich sehr nah am Puls der Zeit, kann die Aktualität von Themen, aber auch die deutsche und internationale Filmbranche gut einschätzen. Darüber hinaus mache ich regelmäßige Fortbildungen, nehme an spannenden Workshops zu Themengebieten wie Dramaturgie, Kamera und Schnitt teil. Auch das hilft mir, meinen Blick auf Stoffe zu schärfen. Last but not least profitiert die Redaktion aber auch von meiner Mehrsprachigkeit – ich habe im englisch- und französischsprachigen Ausland studiert und gearbeitet – sowie von meinem interdisziplinären akademischen Hintergrund. Man braucht nämlich einen guten Überblick über Wirtschaft, Politik, Geschichte, Wissenschaft, Kultur, Religion oder auch Sport, um zuverlässig einzuschätzen, ob ein deutsches oder internationales Thema gut und objektiv recherchiert wurde. Hier haben wir als Redaktion des öffentlichrechtlichen Rundfunks ja eine besondere Verantwortung.

Was ist das Spektrum bei den Einreichungen?

Das Spektrum ist wirklich sehr breit. Manchmal ist es wirklich so, dass uns Autoren Zeitungsartikel weiterleiten, versehen mit einem Dreizeiler und fragen, ob das nicht ein interessantes Thema wäre. So etwas reicht in der Regel natürlich nicht. Der gute Durchschnitt ist ein Exposé von mehreren Seiten, bebildert, in dem nicht nur ein Thema umrissen wird, sondern schon relativ klar beschrieben wird, wie denn ein Film aussehen könnte. Im Idealfall sind schon Protagonisten recherchiert, es gibt einen Spannungsbogen, eine grobe Dramaturgie, es wird dargelegt, wie man sich den Film visuell vorstellt. Wenn dann noch ein Teaser dabei ist, der vielleicht einen Protagonisten oder das Thema kurz anreißt, lässt sich schon sehr gut einschätzen, ob der Autor oder der Produzent das Thema im Griff hat, in welche Richtung es bildlich gehen soll, und ob die Geschichte – das ist für uns ganz wichtig – über so ein langes Format trägt. Es ist eine große Herausforderung, eine Dramaturgie zu bauen, die über 90 Minuten trägt und nicht im Prinzip einen einstündigen Stoff künstlich streckt. Je mehr Informationen wir haben, desto einfacher ist es, einen Vorschlag einzuschätzen. Dann gibt es Projekte, die kurz vor der Fertigstellung stehen und in die man sehr spät einsteigt. Aber das machen wir relativ selten. Wir sehen uns eher als Geburtshelfer für dokumentarische Stoffe, und da sind uns die Produktionen, die noch am Anfang stehen, die vielleicht ohne unser Zutun nicht zustande kämen und die wir dann gemeinsam mit den Autoren entwickeln können, lieber.

Wie erfolgreich sind Ihre Vorschläge im weiteren Verlauf?

Bei der Fülle der Einreichungen können wir natürlich nur einen Bruchteil wirklich realisieren. Wenn ich mich also für ein Projekt stark mache, das ich ganz hervorragend finde, heißt das nicht automatisch, dass wir das Projekt tatsächlich auch machen können. Meine Redakteurin und ich haben ein sehr vertrauensvolles Verhältnis und mein Urteil wird geschätzt. Das heißt, wenn ich mich wirklich für etwas einsetze, passiert zumindest folgendes: nämlich, dass das Projekt sehr genau angeschaut wird. Es kommt aber oft vor, dass wir ein Projekt nicht umsetzen können, selbst wenn wir es wollen. Vielleicht haben wir das Budget nicht dafür, oder es kann aus senderpolitischen Gründen nicht gemacht werden, oder es passiert, dass ein anderer Sender mit mehr Budget einsteigt und uns die Federführung vor der Nase wegschnappt. Das Gute daran ist in diesem Fall, dass diese Filme, die wir gut finden, trotzdem gemacht werden. Auch wenn sie nicht von uns gemacht und gefördert werden, erblicken sie trotzdem das Licht der Welt. Ich merke schon, dass Projekte, für die ich mich stark mache, über die Jahre hinweg eigentlich immer wieder irgendwo auftauchen, auf Festivals sind, Preise gewinnen, oder auf anderen Sendern im deutschen oder internationalen Fernsehen laufen. Das empfinde ich als eine Bestätigung meiner Urteilskraft, dass man in der Breite eben nicht so daneben liegt, sondern diese Filme sich durch – setzen und ihre Förderer und ihr Publikum finden.

Welche herausragenden Projekte der letzten Jahre liegen Ihnen besonders am Herzen?

Meine persönliche Schwäche sind Dokumentationen mit gesellschaftspolitischem Schwerpunkt, aber wir versuchen, auf dem Sendeplatz eine große Bandbreite an Themen und verschiedenen Arten von Filmen zu präsentieren. Mir war zum Beispiel ein Film über den Fischfang im Mittelmeer und den Betrug mit den Fangquoten sehr wichtig. Ein typisches Projekt insofern auch, weil der Filmemacher schon fast aufgeben wollte. Eine schon sicher geglaubte Zusage von arte wurde widerrufen, dann hat er es eigenständig noch einmal bei uns versucht. Ich habe den Stoff dann gelesen, der war schon mit dem Gert-Ruge-Recherchestipendium gefördert, aber der Produzent hatte es nicht geschafft, die Finanzierung zu schließen. Das war einer der wenigen Momente, wo ich mich als Lektor „geoutet“ habe und ihn sofort kontaktierte, das Projekt der Redakteurin vorgestellt habe und wir dann gesagt haben, „das Stück müssen wir machen“. Es kam dann noch die Filmstiftung NRW mit an Bord, aber am Ende waren wir der einzige Sender, der eingestiegen ist. Über unser Zutun ist der Film zustande gekommen, ist auf Festivals gelaufen, hat Preise gewonnen, ist im deutschen Fernsehen mehrmals gelaufen. Für mich war das ein Vorzeigeprojekt in dem Sinn, dass wir ein Thema, einen Film, und einen Filmemacher entdeckt und gefördert haben, der sonst mit seinem Thema in der Senke verschwunden wäre.

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Die Zahl der Einreichungen hat zugenommen. (Bild: Timo Landsiedel)

Haben Sie im Verlauf Ihrer Lektorentätigkeit eine bestimmte Entwicklung feststellen können?

Es gibt schon gewisse Trends, die sich über die Jahre verfolgen lassen. Was derzeit auffällt: Wir bekommen sehr viel mehr Einreichungen als früher, was sicher auch daran liegt, dass es insgesamt weniger Sendeplätze für lange Dokumentarfilme im deutschen Fernsehen gibt, und sich die Vorschläge auf die wenigen verbleibenden Redaktionen fokussieren. Ich will jetzt nicht sagen, wir werden überschüttet, aber wir bekommen ein deutlich größeres Volumen. Bei den Projekten selber geht die Schere hinsichtlich der Qualität immer weiter auseinander. Auf der einen Seite gibt es immer mehr Low-Budget-Projekte, weil es mit dem Einzug von digitalen Produktionsmedien möglich wird, auch für kleines Geld technisch anständige Dokumentarfilme zu machen, die dann aber eventuell dramaturgisch einfach nicht so überzeugend gebaut sind. Es gibt aber auch immer mehr wirklich tolle Produktionen, die mit großem Aufwand, hochwertig und sehr professionell gemacht sind. Da wir auf die Qualität der Produktionen achten müssen, sehen wir deswegen immer mehr Absagen bei Projekten, die da nicht mehr mithalten können. Es gibt aber auch immer Ausreißer. Je persönlicher die Geschichten sind, desto größere Chancen hat man, auch mit einem kleineren Budget hineinzukommen. Ab und an gehen wir wirklich das Risiko ein, mit kleineren Produktionen und zumindest am Anfang kleinem Budget zu kooperieren. Das werden auch zum Teil tolle Filme. Aber da muss man auch als Teil meines Jobs sehr vorsichtig sein, die Spreu vom Weizen zu trennen, weil es viele sehr amateurhafte Einreichungen gibt.

Also die Anzahl von wirklich hochwertigen Filmen auf dem Markt steigt?

Das würde ich unterschreiben. Es gibt einfach immer mehr gute Regisseure, Filmemacher, Produzenten, was zum Teil auch an Förderstrukturen liegt, wo einfach Qualität gefördert wird. Am Ende der Wertschöpfungskette entstehen auch immer mehr außergewöhnliche Produktionen, die dann bei uns landen. Aber im deutschen Fernsehen gibt es einen ganz klaren Trend weg vom langen Dokumentarfilm zu kürzeren Formaten. Wir sind einer der wenigen Sender, die überhaupt noch eine Plattform bieten für anspruchsvolle, lange Dokumentarfilme. Das müssen nicht unbedingt große Produktionen sein. Wir haben einen klaren Fokus auf die Qualität und Originalität, und wenn beides stimmt, dann kann das auch wirklich ein Klein- oder sogar Kleinst-Team sein, mit dem wir dann den Film machen. Dabei stört es uns auch nicht, wenn wir der einzige Sender sind, der bei diesem Projekt mit an Bord ist.

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