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DoP Tim Kuhn erklärt, wie er beim „Polizeiruf 110“ ohne Cropping ein 2K-Bild mit Anamorphoten schaffte

Der 3:4-Trick

DoP Tim Kuhn drehte den „Polizeiruf 110 – Sabine“ in 2K und ProRes mit 2x-Anamorphoten auf der ARRI ALEXA Mini. Das ist verlustfrei in den normalen Aufzeichnungsmodi gar nicht möglich. Wir haben in unserem Heft 12.2020 erklärt, was das Problem ist und wie Kuhn es löste, in dem er die Kamera auf die Seite legte.

Die gekippte ARRI ALEXA Mini im Vertical Rig (Foto: Thorsten Zander)

Eines sei vorweggeschickt: Mit dem nötigen Budget und wahlweise einer Vollformatkamera oder den finanziellen Ressourcen, einen RAW-Workflow zu wuppen – oder gar beidem – ist ein 2K-Signal mit der Bewahrung aller Anamorphoten-Effekte möglich. Vor allem, wenn man dazu noch in 2.39:1 drehen darf. Aber wo bleibt da der Spaß? Die Entscheidung für Anamorphoten bei „Polizeiruf 110 – Sabine“ basiert auf einer längeren Diskussion von DoP Tim Kuhn und Regisseur Stefan Schaller während des ersten Lockdowns. „Die Figuren sollten durch eine relativ kurze Schärfe von ihrer Umgebung getrennt werden. Ihrer inneren Trennung von ihrer Umwelt sollte ein visuelles Pendant gegenüber gestellt werden“, erläutert Tim Kuhn. „Die Vantage-V-Plus-2x-Objektive haben uns die Möglichkeit gegeben, nah den Figuren zu sein, sie zu isolieren und dennoch viel von der Umgebung wahrnehmen zu können. Außerdem wollten wir kein perfektes, cleanes Bild. Die Objektive sollten die Störungen und Zufälle zulassen und dennoch ein modernes Gefühl vermitteln.“

Gedreht wurde auf einer ARRI ALEXA Mini mit RAW-Lizenz und 4:3-Sensor. Den RAW-Workflow jedoch konnte die Crew finanziell bei einer Fernsehproduktion nicht stemmen. 16:9 2K ist jedoch der Standard der Sendekopie, die der betreffende Sender, hier der NDR, am Ende in virtuellen Händen halten wollte. Auch am 16:9-Bild durfte auf dem Sendeplatz nicht gerüttelt werden.

Das stellte Tim Kuhn vor ein Problem. Bei anderen Projekten hatte er bereits Erfahrung gesammelt, durch Cropping aus einem anamorphotischen Breitbild eine 16:9-Fassung zu erzeugen. Der Verlust an Auflösung war aber schon immer störend. Der zweite Nachteil war der Verlust der anamorphotischen Effekte auf das Bild. „Warum ich ja Anamorphoten so toll finde ist, dass sie diesen leicht ,kaputten Look‘ haben“, sagt Kuhn. „Dass sie an den Rändern leichte Unschärfen haben und Verläufe von der Mitte zu den Rändern – und die hat man beim Croppen immer verloren.“

PL-Mount am Objektiv gedreht

Guter Rat ist aber in Zeiten des Internets nicht mehr teuer. Die Herausforderung war es also, auf der ALEXA Mini in ProRes 422 ein 16:9-Bild mit einem Anamorphoten zu erzeugen, ohne ins Bild hineinzucroppen und darüber Auflösung zu verlieren. Tim Kuhn fand dazu einen Artikel im „American Cinematographer“. Der berichtete 2018 über den Kameramann Chapin Hall, der bei dem Kurzfilmprojekt „Last Taxi Dance“ mit seinen eigenen alten Franscope-Anamorphoten gedreht hatte. Um einerseits an eine höhere Auflösung zu kommen und mehr von den anamorphotischen Auswirkungen im Bild zu haben, ließ er sich seinerzeit etwas Cleveres einfallen.

„Der Trick an der ganzen Sache ist, die Kamera um 90 Grad zum Objektiv zu verdrehen“, erklärt Tim Kuhn. „Das Objektiv bleibt in der normalen Position.“ Das hat viele Folgen. Die erste ist, dass auch der Mount am Objektiv ummontiert und so einmal um 90 Grad gedreht wird, damit der Pin, mit dem das Objektiv beim PL-Mount arretiert wird, in der richtigen Position ist und das Objektiv korrekt auf den Sensor abbildet.

Verleihpartner Cinegate Hamburg war zuvor nicht nur sehr unterstützend bei den diversen Objektivtests gewesen, das Team organisierte für Kuhn jetzt sogar ein Vertical Rig für die ALEXA Mini. Das war für einen reibungslosen Ablauf am Set unabdingbar. „Wenn du die Kamera um 90 Grad zur Seite legst, dreht sich ja das ganze Zubehör mit“, so Tim Kuhn. Ohne Vertical Rig liegen dann die Rods auf der einen Seite, die Top-Plate auf der anderen Seite. „Das ist ein Riesenproblem, weil du kaum noch Bedienmöglichkeiten hast.“

Kuhn überließ es seinem Kameraassistenten Thomas Tröger, zu welcher Seite die Mini gekippt werden sollte. Er entschied sich für die rechte, mit dann nach unten zeigendem Lüfter. So kam Kuhn noch oben an die Bedienknöpfe und den REC-Button heran und die Kabel wurden nach unten und nicht über den Lüfter hinweg geführt.

Mehr Sensorfläche

Als Aufnahmemodus entschied sich Tim Kuhn für Apple ProRes 422 4:3 2.8K. Das sind bei normaler Ausrichtung der Kamera 2.944 × 2.160 Pixel Recording File Container Size. Durch das Drehen der Kamera vertauschen sich Höhe und Breite, Kuhn hatte also ein File mit der Auflösung 2.160 × 2.944. Für eine 1:1-Abbildung wäre es wenig sinnvoll, diesen Aufwand zu machen. Aber der 2x-Anamorphot kann auf diese Weise mehr Fläche nutzen und so ein besseres Bild für alle folgenden Schritte ausgeben. Damit blieb die Auflösung in der Horizontalen gleich und nur oben und unten musste beschnitten werden. Aufgrund der „neuen“ Höhe war das aber vor allem der Bereich der abbildungsseitig nicht mehr verwendbar gewesen wäre. Tatsächlich ist es so, dass durch die gekippte Variante auch etwas mehr Sensorfläche als bei dem anamorphotischen Modus der ALEXA Mini genutzt wird. Bei 4:3 2.8K sind das 23,76 × 17,82 mm und beim 2.39:1 2K Anamorphic nur 21,12 × 17,70 mm.

Ein Effekt dessen ist übrigens, dass man nicht nur mehr Auflösung hat, es verändert sich auch die Brennweite ein wenig. Kuhn erklärt, das Bild wirkt noch ein bisschen breiter. „Es geht so etwas in Richtung Mittelformat von meinem Gefühl her. Also mit einem 50er ist man wesentlich weiter. Das hat uns sehr gut gefallen!“

Tim Kuhn betont, dass diese technisch-ästhetische Idee nicht ohne die Unterstützung der Produktionsfirma möglich gewesen wäre. „Was ich da erlebt hab, hat mir große Freude gemacht“, sagt der DoP. „Das war nicht Produktion gegen Kreation, sondern ein echtes Arbeiten Hand in Hand an einer gemeinsamen Vision. Dazu gehören auf beiden Seiten Kompromisse und Zugeständnisse. Aber dann wird echtes Teamplay daraus!“ [13831]

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Kommentare zu diesem Artikel

  1. Glaubt Ihr ernsthaft, dass das irgendein Zuschauer bemerkt, geschweige denn honoriert hat?
    Der normale TV-Zuschauer bemerkt ja nicht einmal eine starke Kompression, Klötzchen o. ä..
    Dem ist das egal, der will nur “irgendwie” die Handlung sehen, vielleicht die Dialoge hören… Für Bildgestaltung, Freistellung u. ä hat der i. a. R. keinen Blick.
    Schade um die (guten) Gedanken und den Aufwand…

    Auf diesen Kommentar antworten
  2. Guten Abend,

    ich bin tatsächlich so ein “normaler TV-Zuschauer” und habe gerade die Erstausstrahlung des “Polizeiruf 110 Sabine” im Ersten gesehen.

    Noch während des Films fühlte ich mich dazu genötigt, die Zeile: “Polizeiruf Sabine Kameratechnik” in die Suchmaschine mit G einzugeben, was mich zu dem Artikel hier geführt hat. (Eigentlich hatte ich erwartet, dazu nichts zu finden.)

    Respekt den Filmemachern!
    Ich habe im allwöchentlichen “Sonntagsabendfernsehen” selten so starke, atmosphärische und faszinierende Bilder gesehen!
    Die Story war beeindruckend bedrückend. Aber die Aufnahmetechnik hat dem Ganzen eine wirklich besondere Qualität verliehen.

    Ich bin absolut kein großer Cineast. Auch bezüglich Kameratechnik bin ich eher ein Laie. Von Anamorphoten habe ich heute zum ersten mal etwas gelesen. Den Aufwand, der hier beschrieben worden ist, kann ich -wenn überhaupt- nur ansatzweise nachvollziehen.

    Aber: Was ihr hier filmtechnisch gemacht habt, hat sich absolut gelohnt!

    Diese Optik hat mich total fasziniert: Rattenscharfer Fokus, psychedelisches Bokeh und “geisterhafte” Flares. Dazu eine gute Kameraführung und Schnitttechnik. Trifft voll und ganz meinen Geschack. Ich möchte jetzt auch einen Anamorphoten für meine olle M43 Kamera 🙂

    Der Ton hätte etwas mehr “High Fidelity” vertragen (war im Vergleich zu zahlreichen vorherigen unterirdischen Tatort-Tönen aber schon gute Mittelklasse).

    Als Frechheit habe ich die Einblendung der “EILMELDUNG” zur Landtagswahl gegen Ende des Films empfunden, die zudem noch völlig ohne jeglichen Informationsgehalt war! Wie kann das Erste so stupide solch ein cineastisches Highlight kaputt machen?! Da fehlen mir echt die Worte. Barbaren!

    Nun denn… abschließend ein Fazit:

    Sehr guter Polizeiruf mit wirklich atemberaubender Kameratechnik!!!
    Danke dass ich daran partizipieren durfte.

    es grüßt
    ein stinkeinfacher Fernsehgucker

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  3. Meiner Ansicht nach hat sich dieser Aufwand voll gelohnt. Tolle, der Geschichte dienende Bilder mit einem 70er touch und doch von heute. Hat mir gut gefallen. Auch die sog. normalen Zuschauenden bekommen mehr mit als oben gesagt, was den Ausdruck der optischen Sprache angeht, auch wenn ihn vielleicht manche Artefakte weniger stören als uns.
    Komplimente auch für die Geschichte, Umsetzung und das Spiel!

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  4. Das der Kameramann mit seinem Team, schöne Bilder gemacht hat, die der Editor sehr gut geschnitten hat und so ein tolles Produkt erstellt wurde ist sehr schön.
    Respekt vor dem Aufwand, um mit alten Vintage Objektiven, solch einen aufwand zu treiben. Mit neueren Anamorphoten dürfte sich der Aufwand nicht so lohnen. Es wäre mal interessant, die 2K Richtlinien vom NDR im Netz zu finden. Netflix ist ja schon im 4K Zeitalter angekommen, da dürfte diese Art der Produktion ganz wegfallen.

    Was nicht wirklich verständlich ist, sind die Pixel Angaben und Sensor Rechnereien.
    4:3 bzw. 23,76 × 17,82 mm sind im Seitenverhältniss 1:1,33333
    das sollte einem ProRes Pixel Seitenverhältnis von 2880 x 2160 entsprechen.
    3:4 bzw. 17,82 x 23,76 mm haben die gleiche Fläche,
    wieso hier plötzlich, von einer niedrigen Auflösung 2.39:1 2K Anamorphic nur 21,12 × 17,70 mm die in Verbindung mit dem Umbau und den Objektiven, keine rolle gespielt haben dürfte erschliesst sich einem allerdings nicht.

    VG Hilary Glaps

    Auf diesen Kommentar antworten

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