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„Hinter der Kamera“-Podcast: Porträt der Editorin und Filmemacherin Carlotta Kittel

Wahrhaftigkeit gestalten

Der zweite Gast im „Hinter der Kamera“-Podcast von Timo Landsiedel ist Editorin und Filmemacherin Carlotta Kittel. In Ausgabe 6.2020 verrät sie, warum sie gerne im Editor*innen-Team arbeitet, wieso in der Editing-Branche weniger Konkurrenz herrscht und welche Projekte ihr besonders am Herzen liegen.

Carlotta Kittel hat einen der außergewöhnlichsten Dokumentarfilme der letzten Jahre gemacht. In „ER SIE ICH“ interviewt sie ihre Eltern zu deren Trennung vor ihrer Geburt. Ihre Mutter wurde schwanger, entschied sich für das Kind und der Kontakt zum Vater brach ab. Die Eltern sprachen seitdem nie darüber. Kittel interviewte beide unabhängig voneinander und spielte ihnen die Aussagen des „Gegenübers“ vor. Der 88-Minüter funktioniert dabei ausschließlich über die Montage von jeweils zwei Interviewsituationen. Es entsteht ein Dialog zwischen den Eltern, der so nie stattgefunden hat. Kittel schafft dabei mit ihrer Co-Editorin Andrea Muñoz den Spagat, dem sehr persönlichen Film eine Universalität abzugewinnen, ohne sentimental oder effekthascherisch zu werden. Muñoz wurde für ihre Arbeit mit dem Nachwuchspreis des Deutschen Kamerapreises in der Kategorie Schnitt ausgezeichnet und dankte ihrer Regisseurin dafür, dass der Film eine „Liebeserklärung an die Montage“ sei.

Montage als Kunst

Für „ER SIE ICH“ übernahm Carlotta Kittel im Rahmen eines Meisterschülerstudiums zum zweiten Mal die Regie. Nach dem Abitur ging sie 2007 an die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam, um Montage zu studieren. Bis 2013 studierte sie auf Diplom und genoss das Studium sehr. Sie schrieb sogar ihre Diplomarbeit über den Studiengang Montage, der einen sehr freien Ansatz hat. „Dort wird eine sehr weite Montagedefinition gepflegt, was sich auch an der Bandbreite der Lehrenden zeigt“, so Carlotta Kittel. „Wir hatten als Studierende das Gefühl, als Künstler*innen ausgebildet zu werden, nicht ,nur‘ als Editor*innen.“

In ihrer Studienzeit entstanden zahlreiche Studienprojekte, darunter auch ihre erste Regiearbeit. Der essayistische Film „Mit langen Haaren bist du schöner“ entstand 2011 während ihres Auslandsjahres an der PWSFTviT, der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater im polnischen Lodz. Kittel lernte dabei vieles für ihren Meisterschülerfilm. „Ich habe gemerkt, ich hätte mich inhaltlich mehr fokussieren sollen auf eine konkrete Sache“ sagt die Regisseurin. „Und ich habe gemerkt, dass es mir schwer fiel, Szenen zu finden oder Bilder, für das, was ich ausdrücken wollte.“ Dies hatte Einfluss darauf, „ER SIE ICH“ viel reduzierter zu gestalten und auch den Mut zu haben, Thema und Form in ihrer Tiefe zu erforschen.

An das Diplomstudium schloss Kittel bis 2016 ein Meisterschülerstudium an, in dessen Rahmen „ER SIE ICH“ entstand. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderm als Best Student Film Gold beim Doc L.A. Festival, dem Preis der Ökumenischen Jury und einer Lobenden Erwähnung der Dokumentarfilmjury beim Achtung Berlin Festival. Er war außerdem nominiert für den Bild-Kunst Schnitt Preis Dokumentarfilm beim Filmplus Festival für Filmschnitt und Montagekunst sowie in der Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis.

Was wichtig ist, wird formal schnell etabliert, wie das Ansteuern des Laptops. Dann folgt die Reduktion auf das Wesentliche: „ER SIE ICH“ ist ein Dialog, der nie stattfand. Foto: Andac Karabeyoglu

Noch heute erhält Carlotta Kittel nach Vorstellungen Feedback, dass die Leute nicht gedacht hätten, ein reiner Interviewfilm könne so spannend sein. Stand für sie mal zur Debatte, die Geschichte anders zu erzählen? „Eigentlich war das die Prämisse, mit der ich reingegangen bin“, sagt Carlotta Kittel. „Es war die allererste Idee, einen Film zu machen, der wirklich nur aus Interviews besteht.“ Bereits im dritten Studienjahr ihres Diplomstudiums hatte die Produktion an der Doku begonnen. Damals war das Projekt sehr viel kleiner geplant. Auch der erste Interviewdreh mit ihren Eltern Angela und Christian vor „roter Wand“ war relativ spontan. Es stand jedoch von Anfang an fest, in einem nächsten Schritt beiden das Interview der / des anderen vorzuspielen.

Reduktion

Danach gab es eine lange Pause, in der Carlotta Kittel von 2010 bis 2011 nach Lodz ging, andere Projekte umsetzte und anschließend ihr Diplom abschloss. Kittel wollte „ER SIE ICH“ auf jeden Fall weiterführen und dann auch mit vollem Einsatz – gerade, weil es so ein persönlicher Film ist. Deshalb bewarb sie sich mit dem Konzept für das Meisterschülerstudium und konnte den Film dann dort zwei Jahre lang entwickeln und fertig stellen.

Im Mai 2014 fanden die Hauptdreharbeiten statt. Das waren jeweils ein Drehtag bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater, diesmal vor „weißer Wand“. Für dieses Gespräch hatte sie mit Co-Editorin Andrea Muñoz die vier Stunden Material des ersten Interviews auf je 90 Minuten komprimiert und konfrontierte nun ihre Eltern jeweils mit den Aussagen des anderen.

„Es gab im Prozess von ,ER SIE ICH‘ durchaus Momente, in denen wir überlegt haben ob wir noch anderes Material drehen“, erinnert sich Kittel. Wenige Einstellungen wurden gedreht, im Schnittprozess flog alles – bis auf das Schlussbild – wieder aus dem Film. Beide Editorinnen empfanden den Schnittprozess als ein Herantasten daran, was sie erzählen wollten. Hier änderte der Film durchaus im Prozess seine Gewichtung. So gab es Fassungen, in denen Carlotta Kittel als Tochter deutlich präsenter in ihrer emotionalen Betroffenheit war.

Bei Testscreenings wurde deutlich, dass das Gefühl bei den Zuschauer*innen war: „Die arme Tochter, was hat das alles wohl mit ihr gemacht?“ Das überlagerte jede andere Erzählung. Deshalb nahmen die Editorinnen diese Gewichtung wieder zurück. „Wir wollten den Fokus auf die Geschichte von Angela und Christian als Paar legen, mit den Themen Kommunikation, unterschiedliche Wahrnehmung und Erinnerung. Dabei war es uns wichtig, beide Figuren gleichberechtigt zu behandeln. Es liegt jetzt letztlich an den Zuschauerinnen und Zuschauern, wann sie emotional bei wem sind“, so Carlotta Kittel.

Schon während der Phase des Meisterschülerstudiums schnitt sie weitere Lang- und Dokumentarfilme. Darunter waren „Die Mitte der Welt“ nach dem Roman von Andreas Steinhöfel und von Regisseur Jakob M. Erwa inszeniert, „Nordland“ von Regisseur Ingo J. Biermann und der Dokumentarfilm „Yes No Maybe“ von Regisseur Kaspar Kasics. Letzteren schnitt sie als Co-Editorin neben der Editorin Isabel Meier und der weiteren Co-Autorin Petra Gräwe.

Schnitt im Team

Etwas, das Carlotta Kittel schon beim Schnitt ihrer ersten Lodzer Regiearbeit „Mit langen Haaren bist du schöner“ bemerkt hatte, bestimmt bis heute ihren beruflichen Alltag. Die Zusammenarbeit mit anderen Editor*innen empfindet sie als sehr interessant und fruchtbar. Als Regisseurin den eigenen Film alleine zu schneiden, funktioniert für sie nicht. „Na klar, ich kann alleine Szenen montieren“, so Editorin Kittel. „Aber bei ,ER SIE ICH‘ war mir klar, dass ich für den langen Montageprozess eine Partnerin, einen Partner brauche.“ Dieser Prozess sei für sie stark mit Kommunikation verbunden, sagt Kittel. Der Weg zur ersten Schnittfassung, dann die zweite Fassung, das Innehalten und Reflektieren, was jetzt anders ist. Will man Aspekte aus der ersten Fassung hinüber holen? „Es geht ja dann nicht um ein schlechter oder besser“, so Kittel. Es gehe darum, am laufenden Band Entscheidungen zu treffen, auf denen wiederum neue Entscheidungen aufbauen, mit denen man die Haltung und Aussage des Films gestaltet. Die klassische Aufteilung Regie und Schnitt war bei „ER SIE ICH“ natürlich nicht gegeben. Schon die Tatsache, dass hier zwei Editorinnen am Schnitt saßen, steht für eine andere Arbeitsweise. Auch wenn Kittel letztlich Regie führte, betont sie doch, dass Andrea Muñoz und sie beim Schnitt gleichgestellt waren: „Wir gestalteten somit diesen komplexen Montageprozess gemeinsam. Letztlich war dann auch egal, wie wir unsere Rollen nannten: Wir waren einfach zwei Menschen, die zusammen an der Montage des Films gearbeitet haben und in einem gleichberechtigten Dialog miteinander standen.“ Muñoz Rolle war dadurch enorm wichtig, dass sie Überblick und inhaltlich emotionalen Abstand mitbrachte. Das war elementar, da Carlotta Kittel letztlich in gleich drei Rollen im Schnittraum saß, als Regisseurin, Editorin – und Tochter. So erzählt im Material Kittels Vater Christian an einer Stelle, wie wichtig der erste Satz seiner Tochter war. „Das hätte ich so nie in den Film geschnitten“, sagt Carlotta Kittel. „Das ist so privat, da denke ich mir doch, wen interessiert denn das?“ Muñoz argumentierte, dass dies ein wichtiger Aspekt sei, über den die Zuschauer eine emotionale Verbindung zu ihrem Vater aufbauen können.

Die Arbeit mit Regisseur*innen unterscheidet sich von der Arbeit mit Co-Editor*innen. Kittel wertet diesen Unterschied jedoch nicht. „Die Regieperson bringt andere Qualitäten mit als die Montageperson“, so Kittel. Es ist ein anderer Blick auf den Montageprozess, der stark von der Rolle geprägt ist. So kann jemand, der nicht an die Tastatur und das Schnittprogramm „gefesselt“ ist, manchmal schnellere, klügere Ideen haben. Genauso kann es sein, dass gerade diese Involviertheit der Editor*in den wichtigen Einblick bringt.

Filmische Kontstruktion

Wiederum besonders war es bei dem Dokumentarfilm „Glitzer & Staub“ von Anna Koch und Julia Lemke. Vor Beginn des Projekts hatte Carlotta Kittel durchaus Respekt davor, mit zwei Regisseurinnen zusammenzuarbeiten. Hier war das gemeinsame Sichten sehr wichtig, was Kittel sonst gerne allein macht. So konnten die Filmemacherinnen der Editorin schon eine zeitliche und räumliche Verortung geben und die drei sich besser kennenlernen. Mit zwei Regisseurinnen im Schneideraum gab es eine ganz andere Dynamik im Austausch, manchmal musste auch mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden.

Carlotta Kittel hat gemeinsam mit den Regisseurinnen Anna Koch und Julia Lemke vier Erzählstränge für „Glitzer & Staub“ gebändigt. Foto: Flare Film / Julia Lemke

Bei der Auswahl von Montage-Projekten lässt sich Carlotta Kittel eindeutig davon leiten, ob das Thema ihre Leidenschaft weckt, sich damit intensiv auseinander zu setzen. Bei ihrer Regiearbeit hingegen interessieren sie weniger die beobachtenden Dokumentarfilme, die durch ein Kennenlernen der Protagonist*innen deren Welt vor Ort darstellen wollen. „Mich interessiert mehr, tatsächlich eine filmische Konstruktion zu bauen, die es so gar nicht gibt in der Realität“, sagt Carlotta Kittel. „Und durch die filmische Konstruktion natürlich auch eine Wirklichkeit darzustellen, ganz subjektiv. Und darin dann besonders Menschen und Geschichten abzubilden und zu gestalten.“

Carlotta Kittel ist sehr wichtig, wie wir in Gegenwart und Zukunft in dieser Branche zusammenarbeiten. Deshalb engagiert sie sich in mehreren Verbänden, ist Mitglied in der AG Dok, bei Pro Quote Film und in der Deutschen Filmakademie. Auch im Bundesverband Filmschnitt (BFS) ist sie Mitglied und kümmert sich dort mit mehreren Kolleg*innen aus München, Hamburg, Köln und Berlin um die Nachwuchsarbeit in den Metropolen. Hier unterstützt sie junge Editor*innen mit konkreten Tipps beim beruflichen Einstieg in die Branche. „Es gibt so viele Fallen, wo ja nicht jede*r von uns durch muss, sondern wo man sich unter Kolleg*innen etwas helfen kann.“

Solidarität unter Editor*innen

In der Schnittbranche, so ist Kittels Eindruck, herrsche im Vergleich mit anderen Gewerken sehr wenig Konkurrenz untereinander. Als einen Grund dafür führt sie an, dass die Editor*innen über den BFS aber auch darüber hinaus sehr gut vernetzt sind und untereinander kommunizieren. „Es gibt wirklich ein extremes Solidaritätsgefühl“, so die Editorin. „Das beschreiben alle und das geht auch über die Generationen hinweg.“

Positiv sei in der Schnittbranche, dass sowohl in der Ausbildung als auch im Einsatz in den Projekten eine gute Geschlechterbalance herrscht. Die ungleiche Bezahlung jedoch sei eine Tatsache, die auch hier immer wieder auffällt. Deshalb unterstützt Carlotta Kittel auch die Arbeit von Pro Quote, gewerkübergreifend und im gemeinsamen Schulterschluss mit den anderen Verbänden für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu kämpfen.

Eine hochinteressante Idee dazu kommt aus Skandinavien. Hier können Fördergelder für Projekte über Diversitätspunkte aufgestockt werden. Werden diese Diversitätsvorgaben eingehalten, gibt es mehr Geld. „Damit wird ein positiver Anreiz für Diversität insgesamt geschaffen, sei das beim Thema Gender, Hautfarbe oder anderen Diversitätsthemen.“ [12653]

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