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Wettbewerb der 69. Berlinale

Leise krachen

Beiträge, die ins Herz treffen: Margret Köhler sah beim Wettbewerb der 69. Berlinale beeindruckende Produktionen.

(Bild: kineo Film/Weydemann Bros./Yunus Roy Imer)

Die Eröffnungsgala begann mit einer Liebeserklärung an den scheidenden Festivaldirektor Dieter Kosslick. „Wir sind nur wegen dir hier“ sangen Max Raabe und Anke Engelke fröhlich im Duett, Kulturstaatsministerin Monika Grütters erklärte gut gelaunt, sie würde einen schwarzen Hut vor ihm ziehen, hätte sie denn einen. Irritierend warme Worte, war sie es doch, die seinen Vertrag nach dem offenen kritischen Brief von 79 Filmschaffenden 2017 nicht verlängerte, obgleich der 70Jährige wohl noch liebend gern die Jubiläums-Berlinale im nächsten Jahr geleitet hätte. Einerlei, es gab jedenfalls Standing Ovations und viel Lob, wie auch bei der Abschlussgala. Wer hoffte, Kosslick würde es zum letzten Mal so richtig krachen lassen und halb Hollywood auf den roten, recycelbaren Teppich holen, dem beschied er schon von vornherein: „Ich habe mich entschieden, es leise krachen zu lassen“.

Sehr leise. Internationale Stars waren selten zu sichten, dafür sonnten sich deutsche Talente im Scheinwerferlicht. Der Glamourfaktor tendierte gen Null, auch wenn unter anderem L’Oréal-Botschafterin Andie McDowell ihre Aufwartung machte, Catherine Deneuve für „L’adieu à la nuit“, Diane Kruger für „The Operative“ oder Christian Bale für „Vice – Der zweite Mann“, die sämtlich außer Konkurrenz liefen. Das Motto der berlinale lautete in diesm Jahr in einer Reprise des Slogans der 68er-Frauenbewegung „Das Private ist politisch“, was dann Themen wie Familie, Kindheit, Konsum, Identität, Landflucht, Gendergerechtigkeit umit sich brachte. Sieben Filme von Frauen konkurrierten um den „Goldenen Bären“, ein Anteil von 41 Prozent und bisheriger Rekord. So startete die „weibliche Berlinale“ mit Lone Scherfigs Ausflug nach Amerika, dem etwas sehr süßem und in ein kitschiges Happy End mündende „The Kindness of Strangers“ über eine Wohlstandsgesellschaft, die die Ärmsten der Armen ausgrenzt. Auftakt zu einem schwachen Jahrgang ohne größere Aussetzer, aber auch ohne größere Ausschläge nach oben, wenig Reibungen bis auf Fatih Akins heiß debattierte Schlachtplatte „Der goldene Handschuh“. Aber Mittelmaß ist Gift für ein Festival. Der englische Guardian urteilte streng „Berlinale 2019 Roundup – from bad to wurst”.

Einer der wenigen Höhepunkte, ausgezeichnet mit dem „Großen Preis der Jury“ lief schon am zweiten Tag. François Ozons Abrechnung mit dem Kindesmissbrauch in der Kirche „Grâce à Dieu“ ist mit nüchternen Bildern (Kamera: Manu Dacosse) auf einen aktuellen Prozess in Frankreich ausgerichtet. Der Priester Bernard Preynat soll sich in den 1980er Jahren an über 70 Jungen vergangen haben, der Erzbischof von Lyon, Philippe Barbarin, kehrt die Vorkommnisse unter den Teppich und lehnt im Gespräch mit einem Opfer das Wort „pädophil“ entrüstet ab. Drei Opfer ergreifen die Initiative: ein gläubiger Familienvater, der alles vergessen wollte, aber als er hört, dass der Täter weiterhin mit Jugendlichen arbeitet, gegen ihn vorgeht, ein Atheist, der seine Wut nicht verbirgt, ein Mann, dem die Vergangenheit die Gegenwart zerstört. Sie sammeln weitere Betroffene um sich und gründen die Webseite und Bewegung „La parole libérée“. Fast dokumentarisch entlarvt Ozon unterstützt von einem superben Cast (Melville Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud) das katholische Schweigekartell. Die Außenaufnahmen wurden unter dem Decknamen “Alexandre“ in Lyon gedreht, die Innenaufnahmen in Belgien und Luxemburg. Der Filmtitel beruht auf der Aussage Barbarins von 2016, wo er erklärte, die Vorwürfe seien „Gott sei Dank“ verjährt. Der Anwalt des angeklagten Priesters versuchte vergeblich, den Filmstart in Frankreich zu verhindern.

Mit Spannung erwartet war „La Paranza dei Bambini“ (Piranhas), ausgezeichnet mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Basierend auf dem Roman des Bestseller-Autors Roberto Saviano, in Deutschland 2018 unter dem Titel „Der Clan der Kinder“ erschienen, entwirft Claudio Giovanessi das Bild einer Jugend in Neapel, die sich als Drogendealer bei der Mafia verdingt, in die Welt des Konsums eintaucht, in einen Teufelskreis aus Gewalt, Abhängigkeit, Faszination der Macht gerät. Saviano, seit seinem Welterfolg „Gomorrha“ von 2006 auf der Todesliste der Camorra und unter permanenten Polizeischutz, ließ sich von realen Ereignissen inspirieren. Die Laiendarsteller machen ihre Sache gut, allerdings weiß man von Beginn an, dass die Katastrophe lauert, Freiheit eine Illusion bleibt, wenn die Opfer einer maroden Gesellschaftspolitik zu Tätern werden. Die fließende Kamera von Daniele Cipré ist immer auf Augenhöhe mit den Protagonisten, erzeugt Breitwandbilder, die Neapel im wahrsten Sinne des Wortes in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Preiswürdig schien für Presse und Publikum Teona Strugar Mitevskas „God Exists, Her Name Is Petrunya“ aus Mazedonien. Regie, Drehbuch, Kamera (Virgienie Saint Martin) und Schnitt – alles von Frauen verantwortet. Zorica Nusheva verkörpert eine junge Frau mit Speckröllchen, die in voller Montur bei einem religiösen Ritual, das traditionell Männer vorbehalten ist, ins Wasser springt und ihnen das Kreuz wegschnappt. Wie sie sich gegen Männerhorden, einen wachsweichen Popen und Schikanen auf der Polizeistation mit stoischer Ruhe wehrt: Das allein wäre schon den Darstellerinnenpreis wert gewesen.

Aber da gab es ja noch Angela Schanelec, Repräsentantin der Berliner Schule, die nicht leer ausgehen durfte und mit „Ich war Zuhause, aber“, ihren bisher zugänglichsten Film mit autobiografischen Zügen zeigte. Das wurde mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie belohnt. Handlungsstränge bündeln sich und fallen wieder auseinander. Der Mann der weiblichen Hauptfigur (Maren Eggert) und Vater zweier Kinder ist vor zwei Jahren gestorben und war Theaterregisseur wie Angela Schanelecs Mann Jürgen Gosch. Der Umgang mit Trauer und Tod, Diskussion darüber, ob man ein Kind in die Welt setzen soll, Proben von “Hamlet“, Desaster beim Fahrradkauf, ein wütender Monolog über das Falsche und das Wahre in Theater und Film, viel Raum, viel Stille, dem Leben zuschauen, lange Einstellungen (Kamera: Ivan Markovic). Anhänger der dosierten Langsamkeit sollten auf ihre Kosten kommen. Wer allerdings einen dramaturgischen Spannungsbogen schätzt, könnte an dieser harten Prüfung leicht scheitern.
Ein anderer deutscher Beitrag traf mitten ins Herz: Nora Fingscheids sensationelles Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ (Kamera: Yunus Roy Imer). Die neunjährige Benni wechselt zwischen Pflegefamilien, Klinikaufenthalten und Wohngruppen, ist wegen ihrer unkontrollierten Wutanfälle bei Betreuern gefürchtet, schmeißt auch schon mal brüllend und mit ungebremster Kraft Bobbycars an die Fenster der Schule, prügelt sich gerne. Sie träumt davon, wieder bei der überforderten Mama und ihren Geschwistern zu sein, träumt von ein bisschen Liebe und stößt alle, die ihr helfen wollen, vor den Kopf. Ein Problemkind, das wohl irgendwann in der Psychiatrie landet.

Nora Fingscheid, Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg, die vor sechs Jahren mit den Recherche begann und beim Schreiben immer wieder an ihre persönlichen Grenzen stieß, zeichnet das Schicksal eines „wilden, wütenden Mädchens“ nach, stellt sich auf die Seite der im Pflegesystem Verlorenen und nimmt die Perspektive des Kindes ein, fragt nach dem Sinn von Maßnahmen. Einfach umwerfend die inzwischen 10jährige Helene Zengel, die diesen „Systemsprenger“ – ein Begriff aus dem Branchenjargon – mit viel Gefühl glaubhaft verkörpert. Der „Alfred-Bauer-Preis“ für einen Spielfilm, der neue Perspektiven öffnet geht in Ordnung, aber dass die 36Jährige nicht für den Besten Erstlingsfilm, den GWFF-Preis, ausgezeichnet wurde, erstaunt doch sehr. Von dieser Regisseurin ist jedenfalls noch einiges zu erwarten.
In Per Pettersons Roman „Pferde stehlen“ spielte die Landschaft eine ganz besondere Rolle und so dann auch in Hans Petter Molands Leinwandadaption „Ut og stjæle hester“ (Out Stealing Horses) . Die fängt Kameramann Rasmus Vedebæk in fulminanten Bildern ein, in einem poetischen Spiel von Licht und Schatten, erfüllt sie mit Seele und folgt seiner Intuition. Dafür wurde der Däne mit dem „Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung“ geehrt. In seiner kurzen Dankesrede betonte er die gute Zusammenarbeit und das Vertrauensverhältnis mit Moland und seinem Kamerateam. [8197]

Lesen Sie morgen, welche Perspektiven die Berlinale nach dem Abschied von Festivalchef Dieter Kosslick hat.

 

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