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“Mamacita” – Wie das Familienporträt im Schnitt entstand

„Mamacita“ ist das Familienporträt der Torrescanos. Der mexikanischen Regisseurs José Pablo Estrada Torrescano hat über Jahre Gespräche mit seiner fast 100-jährigen Großmutter geführt und dabei eine emotionale Aussöhnung mit ihren langjährigen Familiengeheimnissen gefilmt. Am 27. Juni kommt der ungewöhnliche Dokumentarfilm in die deutschen Kinos. Schnittmeisterin Mechthild Barth und Regisseur Torrescano haben uns für die Heftausgabe 7-8/2019 einen Einblick in ihre Zusammenarbeit gegeben. Hier nun der zweite Teil des Beitrages zu ihrer gemeinsamen Zeit.

Der Regisseur Torrescano und seine Großmutter
Regisseur José Pablo Estrada Torrescano mit seiner Mamacita (Foto: José Pablo Estrada Torrescano)

Wie im ersten Teil des Beitrages berichtet kam Editorin Mechthild Barth erst spät zum Schnitt von „Mamacita“ dazu. Regisseur José Pablo Estrada Torrescano selbst arbeitete schon länger an diesem Projekt über seine eigene Großmutter. Uns hat Mechthild Barth erzählt welche Besonderheiten sie in der Zusammenarbeit mit dem Regisseur und der Arbeit an der Dokumentation zu beachten hatte.

HERAUSFORDERUNGEN DES SCHNITTS

Mechthild Barth erzählt, im Schnitt bot die Protagonistin spezielle Herausforderungen: „Die Gespräche sind nicht in dieser Reihenfolge passiert. Wie das so ist bei alten Leuten: Die kommen zwar ganz oft immer wieder zum selben Punkt zurück, aber zwischendrin springt die Nadel einfach mal ein paar Rillen weiter. Dann merkt man: Ah, die spricht jetzt über jemand ganz anders! Das war auch einer der Gründe, warum viele der Interviews ins Off gelegt werden mussten. Je emotionaler der Punkt war, an den sie kam, desto weniger stringent war sie im Erzählen. Und dadurch musste viel Mosaik gespielt werden.“
In einer Sequenz hört man Mamacita eine sehr persönliche Geschichte erzählen, aber wir sehen dazu nur ihr nachdenklich schweigendes Gesicht. „Sie fängt in diesem Moment tatsächlich an, darüber zu reden. Es geht dem voraus, dass sie so nachdenklich ist. Das ist nicht gepuzzelt.“ Weit schwieriger war es aber, den genauen erzählerischen Bogen zu finden. „Beim ersten Rohschnitt bin ich einfach ganz banal nach Intuition vorgegangen“, führt Barth aus. „Wann will ich was wissen? Wann fang ich an, mich zu langweilen, weil zwei tragische Sachen direkt nacheinander erzählt werden, und die eine der anderen die Kraft absaugt? Ich dachte nur: Man muss etablieren, wie bei denen der Alltag läuft, und der Enkel muss seiner Oma näher kommen – was nur geht, wenn sich diese harsche Frau öffnet.“
Vor allem die Balance zwischen den verschiedenen Seiten von Mamacita erforderte viel Gespür: „Je nachdem, wie aggressiv man Mamacita am Anfang zeigt, desto weniger will man das Ende sehen. Eins färbt ja immer auf die nächste Szene ab. Man muss an José Pablos Empathie für diese Frau dranbleiben, die ja auf der einen Seite ein Tyrannosaurus Rex ist, aber auf der anderen Seite etwas extrem Verletzliches hat – und Verletzendes. Die ist ja sowohl aktiv als auch passiv.“ Das Ziel war, dass man sowohl die komischen wie auch die ernsten und tragischen Seiten im Gleichgewicht hält.

Filmplakat "Mamacita"
Filmplakat von “Mamacita” (Foto: Real Fiction)

ESSENZ

Dazu gehört auch die Entscheidung, welche Sequenzen man weglässt. Vom zweistündigen Rohschnitt bleibt eine 75 Minuten schlanke finale Fassung über. „Wenn es nichts mit Mamacita zu tun hatte, war klar, dass es nicht passt. Ihre Bediensteten, wie sie behandelt werden, meine Tanten, das Essen, ihr Großvater, das alles steht in Verbindung mit ihr. Sie ist der Mittelpunkt von allem“, meint Torrescano.
„Von den vielen Geschichten musste man auswählen, wohl wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, Kreise zieht“, führt Barth aus. Eine Sequenz, die erst sehr spät herausgeschnitten wurde, zeigte beispielsweise, wie Mamacita einem Bediensteten, dem die Beine wehtun, eine Massage gibt – wobei sie ihm einfach feuchte Handtücher auf die Oberschenkel legt. Im selben Moment kommt eine andere Bedienstete herein, der prompt von der alten Dame gekündigt wird. „Aber da ist man viel weiter von Mamacitas eigener Geschichte weggekommen. Und wenn man Mamacitas eigenen Kreisen nicht mehr folgen kann, dann bedeutet das ganze Ende nichts mehr“, erklärt die Schnittmeisterin. Entfernt wurden beispielsweise auch Aufnahmen, in denen Mamacita herumgefahren wird: „Wenn wir José Pablo wirklich eintauchen lassen in dieses Imperium, dann muss das auch Teil des Konzepts sein: My home is my castle, und da ist sie Schlossherrin.“
Erst im Schnitt schälte sich auch der zweite Protagonist des Films heraus: Regisseur Torrescano selber. „Anfangs hatte José Pablo gar nicht vor, sich selber zum Teil der Geschichte zu machen. Während der dok.incubator-Wochen kamen dann aber immer mehr Fragen zu ihm und zum Tod seiner Mutter – und da war klar: so weit, wie er das gerne hätte, kann er sich da nicht herausnehmen“, erinnert sich Barth. „Ich wusste gar nicht, wie ich im Bild bin“, fügt Torrescano an. „Ich musste immer nah bei Mamacita sein, weil sie nicht gut hört und sieht. Irgendwie wusste ich, dass ich zu sehen sein werde, aber nicht, wie und wie sehr.“
Auch die Entscheidung, ein sparsam eingesetztes Voiceover des Regisseurs hinzuzufügen, kam erst spät im Schnitt, aber nach und nach formte sich mit kleinen Ergänzungen, teils nur einzelnen Einstellungen von Torrescano, der jetzige Film, der nicht nur von Mamacita erzählt, sondern auch von der Beziehung zwischen ihr und ihrem Enkel. „Wir haben das gefunden, wonach José Pablo gesucht hat – auch wenn er vorher gar nicht gewusst hat, wonach er sucht. Ein bisschen wie die Horcruxe bei Harry Potter: Man weiß nicht, wie sie aussehen, man weiß nicht, wo sie sind, aber man weiß, dass man sie finden muss“, lacht Barth.
Die inzwischen 100-jährige Hauptdarstellerin leidet übrigens mittlerweile an Demenz und erkannte sich selber nicht auf der Leinwand. „Wer ist die Frau?“, wollte sie von ihrem Enkel wissen. „Es klingt tragisch, dass sie sich an nichts erinnert, aber sie ist glücklich. Vor dem Film hat sie ständig mit ihren Bediensteten und mit ihrer Familie gestritten und war allein. Während des Drehs hat die Familie sie wieder öfter besucht. Auch wenn sie jetzt nicht weiß, worum es im Film geht, ist sie sehr glücklich, dass es einen Film über sie gibt“, meint Torrescano. „Dank des Films hat sie ihrem Großvater vergeben und sich öffnen können. Was mich glücklich macht, ist, dass sie damit glücklich ist.“

Lesen Sie auch wie es zu der Zusammenarbeit der beiden kam und welche Hürden für Torrescano schon vor dem Schnitt gab. Außerdem haben wir hier beleuchtet wie sich im Schnitt an die Großmutter angenähert werden musste.

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