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DoP Matthew Lewis dreht „Adolescence“ als One-Shot

Fließender Blick (3)

Nach Dreh und Technik folgt die Postproduktion: Color Grading, Teamarbeit und präzises Timing machten „Adolescence“ zu einer immersiven One-Shot-Erfahrung.

Adolescence BTS
Foto: Netflix

Die Postproduktion von „Adolescence“ stellte eigene Herausforderungen, insbesondere beim Color Grading, das bei einem One-Shot anderen Regeln folgen muss als bei konventionell geschnittenem Material. Statt einzelner Shots werden hier ganze Sequenzen als durchgehende Timeline bearbeitet, einschließlich aller Belichtungswechsel, Lichtveränderungen und Farbänderungen innerhalb eines Takes von einer Länge zwischen 51 und 65 Minuten. Lewis arbeitete hierfür eng mit Colorist Dan Moran vom Londoner Postproduktionshaus Harbor zusammen.

Die Vorbereitung begann bereits während der Dreharbeiten. Mit gezielten LUTs, die sich am gewünschten Look des Kodak Vision3 500T 5219-Materials orientierten, wurde der Look bereits am Set angenähert. Gleichzeitig wurde eine leicht überbelichtete Aufnahmeweise gewählt, um in dunkleren Bildbereichen möglichst viel Detail zu erhalten.

In der Postproduktion wurde das Material mit Keyframes über die gesamte Timeline hinweg durchgängig getrackt. Statt harter Übergänge oder sichtbarer Bildsprünge wurden Helligkeit und Farbton kontinuierlich angepasst, etwa wenn die Kamera von einem Raum in einen anderen überging oder Tageslichtquellen durch Kunstlicht abgelöst wurden. Besonders heikel waren die Übergänge zwischen Innen und Außen, bei denen variable ND-Filter eingesetzt worden waren. Diese Veränderungen waren im Grading unauffällig zu glätten, sofern sie ohne Bearbeitung wahrnehmbar waren.

In einer Sequenz bewegt sich die Kamera beispielsweise aus einem Wohnzimmer hinaus in grelles Tageslicht, betritt danach ein halbdunkles Treppenhaus und führt schließlich in einen fensterlosen Flur. Statt in drei separaten Belichtungssettings zu denken, musste Lewis den gesamten Helligkeitsverlauf als eine dramaturgisch motivierte Lichtkurve begreifen. Colorist Dan Moran setzte dies im Grading mit punktuellen Masken und variablen und überblendeten Farbwerten um.

Auch der Look selbst wurde mit Bedacht gewählt. Eine gewisse Körnigkeit und der bewusste Verzicht auf sterile Schärfe sollten die emotionale Rohheit der Handlung unterstreichen. Die Entscheidung für einen warm-neutralen Grundlook erlaubte es zudem, Szenen Szenen mit unterschiedlichsten Farbstimmungen, die vom kalten Licht der Polizeistation bis zum warmen Sonnenlicht eines Spätnachmittags reichen konnten, harmonisch miteinander zu verbinden.

Ein zusätzlicher Aufwand bestand in der Korrektur von Vignettierungen, die besonders beim 32 mm Cooke SP3 sichtbar wurden. Lewis entschied sich bewusst gegen eine vollständige Entfernung, sondern ließ eine dezente Vignette stehen, um die Bildwirkung subtil zu zentrieren. Diese sorgfältige Abstimmung zwischen Kamerapraxis und Farbnachbearbeitung trug wesentlich dazu bei, den immersiven Effekt der Serie zu erhalten und das One-Shot-Erlebnis nicht nur visuell kohärent, sondern auch emotional glaubwürdig zu gestalten.

Adolescence BTS
Der motorisierte Slider ermöglichte Querfahrten vor der Windschutzscheibe des Vans. Gesteuert wurde vom Sitz auf dem Dach.(Foto: Netflix)

Teamarbeit

Die technischen Voraussetzungen waren nur ein Teil der Herausforderung. Das eigentliche Herzstück bei der Umsetzung der Serie als One-Shot war das Zusammenspiel zwischen Kamera und Cast. Besonders wichtig war dabei das eingespielte Duo aus DoP Matthew Lewis und Operator Lee Brown, die sich die Kameraführung teilten. Brown, ursprünglich als Steadicam-Operator tätig, brachte eine besondere Intuition für fließende Bewegungen und situatives Timing mit.

„Lee ist ein emotionaler Operator. Er liest die Szene, reagiert auf den Cast und antizipiert, was als Nächstes passiert“, beschreibt Lewis seinen Kollegen. Diese Qualitäten waren unerlässlich, da viele Übergaben im Bruchteil einer Sekunde passierten, so etwa beim Wechsel der Kamera zwischen Fahrzeug und Straße oder bei Verfolgungsszenen mit mehreren Ebenen.

Die Übergaben der Ronin 4D wurden dabei beinahe tänzerisch choreografiert. Während einer Szene in Folge eins läuft Brown mit der Kamera einer Figur über den Schulhof nach, springt zur Seite, reicht das Gerät an Lewis weiter, der in ein bereitstehendes Fahrzeug springt und die Szene weiterführt. Diese Übergabe erfolgte blind, ohne visuelle Kontrolle durch den neuen Operator, allein gestützt durch Timing, Proben und gegenseitiges Vertrauen.

Damit all diese Abläufe auch unter Zeitdruck funktionieren konnten, wurde jede Episode in einem mehrwöchigen Turnus vorbereitet. In Woche eins probten Regie, Schauspiel und Kamera jede Szene isoliert. Die zweite Woche war technischen Details gewidmet. Erst in der dritten Woche lief die Kamera.

Nicht nur Kamera und Licht, auch Ton- und Videotechnik mussten sich in das äußerst mobile Setup integrieren. Die Videoassist-Crew verlegte hunderte Meter Kabel in und um Schulgebäude, Straßen und Studiokomplexe, um eine stabile Übertragung der Signale an das Regieteam zu garantieren. Teilweise agierten die Kameraassistenten auch als mobile Repeater für das Funksignal. Lewis beschreibt das Arbeitsklima am Set als konzentriert, aber durchweg kollaborativ. „Man hat das Gefühl, dass alle gemeinsam eine Art Live-Performance erschaffen, vergleichbar mit einem Theaterstück, bei dem es keine zweite Chance gibt.“ Dieser Teamgeist wurde auch durch tägliche Briefings vor Drehbeginn gefördert, bei denen die Herausforderungen des Tages besprochen und letzte Anpassungen vorgenommen wurden.

Daraus resultierte eine Arbeitsweise, die alle am Set zu Mitspielenden machte. Requisiten-, Szenenbild-, Ton- und Lichtgewerke waren eng eingebunden, denn jeder Handgriff musste sitzen, jeder Wechsel im Bildhintergrund abgestimmt sein. Lewis und Brown waren dabei nicht nur Kameraleute, sondern auch Performer, die sich im Rhythmus der Geschichte bewegten, mal zurückhaltend beobachtend, mal aktiv führend. Diese Form der Zusammenarbeit prägte die gesamte Entstehung von Adolescence und ermöglichte eine filmische Erzählhaltung, die in ihrer Konsequenz und technischen Ausführung neue Maßstäbe für Serienformate setzt.

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Gestalterische Kontrolle: Durch große Fensterflächen, Diffusion und gezielte Setups blieb die Lichtwirkung realistisch. (Foto: Netflix)

Mittel zum Zweck

„Adolescence“ zeigt eindrucksvoll, wie Kameraarbeit zur narrativen Kraft einer Geschichte beitragen kann, besonders, wenn sie so konsequent gedacht und umgesetzt wird wie hier. Der Verzicht auf den Schnitt macht die Kamera zum ununterbrochenen Beobachter und zum physischen und emotionalen Mitspieler in der Erzählung. Das erfordert nicht nur technisches Know-how aller Beteiligten, sondern auch ein Verständnis für Timing, Performance und Dramaturgie.

Für DoP Matthew Lewis war „Adolescence“ nicht nur ein weiterer Ausflug ins One-Shot-Genre, sondern ein bewusster Schritt nach vorn. Im Vergleich zu „Boiling Point“ wurde das Konzept erweitert, verfeinert und in noch größerem Maßstab umgesetzt, wobei sich das technische Setup als gleichzeitig unsichtbar wie hocheffizient bewährte.

Gleichzeitig loteten DoP Matthew Lewis und Regisseur Philip Barantini das kreative Potenzial des Formats aus. One-Shot ist hier keine Fingerübung oder lediglich ein stilistisches Mittel, sondern Teil des emotionalen Konstrukts der Serie. Kamera, Licht, Szenenbild und Schauspiel greifen so ineinander, dass die Trennung zwischen Form und Inhalt auf dem besten Wege ist, unsichtbar zu werden.

Lewis bringt es am Ende auf den Punkt: „Die besten One-Shots sind die, bei denen man vergisst, dass sie einer sind – weil man zu sehr mitfühlt.“


Die technischen Details zu Kamera, Licht und Szenenbild findest du hier!


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