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In die Tiefe der Figuren

Seit Jahren bemüht sich Regisseur Rainer Matsutani um mehr Genre in deutschen Kino- und Fernsehproduktionen. Seit Dezember 2024 ist seine neue Serie „Hameln“ in der ZDF-Mediathek präsent und erzielt dort hohe Abrufzahlen und eine traumhafte „Completion Rate“ von 70 Prozent. Für den Stoff recherchierte er die Ursprünge der Sage des Rattenfängers von Hameln, in der Folge wurden Menschen mit Behinderung zu seinen Hauptfiguren. Wir sprachen mit ihm in unserer Ausgabe 4.2025  über seine Besetzung, wie Inklusion und Diversität Stoffe bereichern kann und wie es ist, in Deutschland einen Genrestoff zu produzieren.

Teamfoto "Hameln"
Foto: ZDF

Jedes Kind hierzulande kennt die Sage vom „Rattenfänger von Hameln“. Als eines der auch international bekanntesten deutschen Märchen ist sein Ursprung erstaunlich gut erforscht und lässt sich auf den Tag genau fast 750 Jahre zurück verfolgen. Am 26. Juni 1284 sollen in Hameln 130 Kinder von einem Flötenspieler verschleppt worden sein, weil diesem sein Lohn für die Lösung eines Ungezieferproblems verwehrt worden war. Die Gebrüder Grimm nahmen die Sage in ihr berühmtes Märchenbuch auf, sie wurde weitererzählt und kann niemandem entgehen, der sich heutzutage nach Hameln wagt.
Regisseur und Autor Rainer Matsutani ist immer auf der Suche nach genuin deutschen Genrestoffen. Die Sage des Rattenfängers lag schon lange auf seinem Stapel für Stoffe. Auch für ihn, so gibt er offen zu, war die Herangehensweise dieses Mal ungewöhnlich.

Spannende Figuren

Matsutani war vor rund sechs Jahren zur Entwicklung eines Netflix-Projekts eingeladen worden. Hier sollten die bekanntesten Gruselsagen aus der ganzen Welt aus ihrem kulturellen Raum heraus für eine Anthologie verfilmt werden. Matsutani entschied sich aufgrund ihrer weltweiten Popularität für die Rattenfänger-Sage. Dann kam die Pandemie und das Projekt wurde abgesagt.
Doch Rainer Matsutani entwickelte den Stoff einfach weiter. „Ich bin in die Tiefe gegangen“, sagt er dazu. „Ich wollte aber keine historische Serie mehr machen, ich wollte einen modernen Ansatz finden.“ Also fragte er sich: Was wäre, wenn der Rattenfänger ins heutige Hameln zurückkehrt? „Aber nicht allein, sondern mit den 130 toten Kindern, die er damals entführt hat. Ziemlich schnell war dann der Plot da, denn mich haben auch die Überlebenden von damals interessiert.“ Der Überlieferung nach waren dies eine „Blinde“, ein „Tauber“ und ein „Lahmer“.

Sie sollten nun die Rückkehr des Rattenfängers motivieren. Er will sie holen, weil sie ihm damals entkommen sind. „Das also waren meine Helden“, wusste Rainer Matsutani ganz schnell. Das ZDF war ähnlich schnell im Boot. „Die sind ja nicht nur mutiger geworden, was Genre angeht, die wollen auch Diversity und Inklusion in ihren Stoffen sehen.“

Rainer Matsutani
Rainer Matsutani, Regisseur, Autor und Co-Produzent von „Hameln“ (Foto: privat)

Inklusive Besetzung

Für die Geschichte erfand Matsutani mit seinem Co-Autor Sandro Lang die Figuren der blinden Finja Roth, gespielt von Caroline Hartig, den gehörlosen Jannik Mannheimer, gespielt von Constantin Keller, sowie den von Riccardo Campione dargestellten Ruben Zastrow, der im Rollstuhl sitzt. Während Campione auch Stuntszenen hatte, für deren Umsetzung er nicht wirklich gehbehindert sein konnte, besetzte Matsutani seinen Jannik Mannheimer mit dem tatsächlich gehörlosen Schauspieler Constantin Keller.
Matsutani gesteht, er habe diese Besetzung nicht aus politischen Überzeugungen vorangetrieben. Er hatte zunächst Bedenken, aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit geringen Budgets und dem tatsächlichen Mehraufwand durch solch eine Entscheidung. Er wollte zunächst für die Rolle einen Schauspieler besetzen. „Dann habe ich aber gemerkt, auch in den Gesprächen mit der Redaktion, die Zeiten haben sich gewandelt, das können wir so nicht bringen“, sagt Matsutani. Im Castingprozess stießen sie bald auf Constantin Keller. Die Probeaufnahmen überzeugten den Regisseur.

Doch der Mehraufwand am Set ist real. So war immer ein Gebärdensprachdolmetscher vor Ort und zudem ein Gebärden-Supervisor. „Der Dolmetscher ist dafür da, dass ich und das Team und die Schauspieler mit Constantin kommunizieren können und umgekehrt“, so der Regisseur. „Der Supervisor achtet genau darauf, was Constantin vor der Kamera abliefert – und auch die anderen Schauspieler, die dafür das Gebärden gelernt haben – und ob das korrekt ist.“

Authentisch

Für die Authentizität der Hauptfigur und die Performance seines Hauptdarstellers habe sich das laut Matsutani gelohnt. „Und so aufwendig, wie ich befürchtet hatte, war es dann nicht“, so der Regisseur. „Als ich dann die Muster gesehen habe und die ersten Schnitte, kam dann die Beschämung für mich, die persönliche. Constantin war Jannik. So authentisch und berührend, wie er gespielt hat, das hätte – Entschuldigung! – kein Schauspieler machen können.“

Für eine Produktion im öffentlich-rechtlichen Rahmen sind die Horrorversatzstücke schon recht ordentlich. Schockeffekte, düstere Atmosphäre und Effekte wie ein brennender Jugendlicher sieht man hier selten. Genreproduktionen werden bei ARD und ZDF nicht primär für die lineare Ausstrahlung geplant, sondern vor allem für die Mediatheken. Hier sind fünf der sechs Episoden frei verfügbar. Die sechste darf entweder nach einer Altersprüfung oder erst nach 22 Uhr angesehen werden. Für das Finale wollte sich der genreerfahrene Matsutani nicht einschränken.

Das Feedback vom Publikum ist positiv. Innerhalb der ersten Woche schauten 70 Prozent des Publikums die Serie komplett an. „Die Serie wird wahnsinnig gut geguckt“, sagt Rainer Matsutani. Ob die Filmkritik seine Serie gut findet, interessiert ihn weniger. Denn er macht seine Kunst für das Publikum. [15544]

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