DoP Matthew Lewis dreht „Adolescence“ als One-Shot
Fließender Blick (1)
von Uwe Agnes,
Vier Folgen, vier Takes: Für die Netflix-Serie „Adolescence“ inszenierten DoP Matthew Lewis und Regisseur Philip Barantini jede Episode als echten One-Shot. Die Kameraarbeit überzeugt mit emotionaler Dichte und technischer Finesse.
Foto: Netflix
Manche behaupten, der Schnitt sei das eigentliche Wesen des Films, doch dürften sie beim Blick auf die Geschichte der Plansequenz regelmäßig Abbitte leisten müssen. Spätestens seit Orson Welles für „Touch of Evil“ in einem 3½-minütigen Kran- und Dolly-Shot die mexikanische Grenze überquerte und die derweil tickende Bombe außerhalb des Bilds explodieren ließ, gilt der One-Shot als filmische Königsdisziplin. Denn die Natur einer solchen Einstellung verlangt, dass Kamera, Spiel, Timing, Licht und Ton zur gleichen Zeit hundertprozentig stimmen. Erst recht zu vor-digitalen Zeiten war eine solche Sequenz ein gewagtes Manöver.
Stellen wir uns nun vor, nicht nur den Beginn eines Films, sondern vier komplette Serienfolgen als One-Shot zu realisieren, und zwar als echte, durchlaufende Einstellung und ohne versteckte Schnitte, wie wir sie bei der Kameraarbeit von Roger Deakins für „1917“ sehen – oder eben nicht sehen – konnten. Genau das war der gestalterische Plan für die Netflix-Miniserie „Adolescence“, bei der DoP Matthew Lewis und Regisseur Philip Barantini ein erzählerisches Statement setzten: Sie beschlossen gemeinsam, jede der vier Episoden als durchgehenden One-Shot in Szene zu setzen.
DoP Matthew Lewis setzte bei „Adolescence“ auf die Ronin 4D. (Foto: Netflix)
Was auf dem Papier wie ein äußerst riskantes Konzept klingt, entfaltet in der Umsetzung eine Sogwirkung, die das Publikum unmittelbar ins Geschehen zieht. Für DoP Matthew Lewis bedeutete diese Herangehensweise allerdings eine logistische und technische Herausforderung auf höchstem Niveau.
Lewis hatte bereits gemeinsam mit Regisseur Philip Barantini bei „Boiling Point“ Erfahrungen mit dem One-Shot-Format gesammelt. Dort drehte er fast durchgehend aus der Hand, was zwar eine große Unmittelbarkeit erzeugte, aber aus seiner Sicht durchaus seine Grenzen hatte. „Wenn man beim Laufen die Schritte des Operators spürt, entsteht eine gewisse Distanz zum Geschehen“, erinnert sich der DoP an die damalige technische Umsetzung. Für „Adolescence“ wollte er das ändern und eine Lösung finden, bei der sich die Kamera sanfter, fließender und zugleich weniger auffällig in die Szenen integriert.
One-Shot als Erzählhaltung
Der besondere Reiz des One-Shot-Formats liegt für Lewis in der Unmittelbarkeit. Alles, was auf der Bildebene geschieht, passiert in Echtzeit. „Der Zuschauer hat keine Gelegenheit, durch einen Schnitt emotional auszusteigen“, erläuterte DoP Matthew Lewis gegenüber dem „British Cinematographer“. Vielmehr zwinge der kontinuierliche Blick dazu, sich mit jeder Figur und jedem Moment auseinanderzusetzen. Besonders in einer Geschichte, die von Gewalt, Schuld und den sozialen Verwerfungen im Leben eines Jugendlichen handelt, entfalte diese Form ihre ganze Wucht.
Regisseur Philip Barantini und DoP Matthew hatten schon bei „Bowling Point“ Erfahrungen mit dem One-Shot-Format gesammelt. (Foto: Netflix)
Doch der Verzicht auf Schnitte stellt enorme Anforderungen an Kamera und Crew. Jede Bewegung, jeder Lichtwechsel, jede Nuance muss sitzen, oder die gesamte Sequenz beginnt von vorn. In der Konsequenz wurden für jede Episode zwei Wochen Proben angesetzt: zunächst mit dem Cast, danach mit Technik und Kamera. Das Drehen selbst erfolgte dann meist in etwa zehn bis zwölf Takes pro Folge. Teils waren sogar bis zu sechzehn Anläufe nötig.
Die Planungsarbeit für die Kamerachoreografie begann Monate vor dem Dreh. Lewis nutzte das Tool Shot Designer, um jede Szene als Aufsicht mit klar definierten Bewegungsachsen für Kamera, Cast und Crew zu skizzieren. Bewegungsrichtungen, Positionen und Übergabepunkte wurden animiert und danach in der Probenphase Schritt für Schritt verfeinert. Dabei zerlegte Lewis jede Episode in Abschnitte, die zunächst einzeln geprobt und dann in der Gesamtabfolge einstudiert wurden. Das Ziel war eine fast choreografische Sicherheit, vergleichbar mit einem Theaterstück oder einer Ballettaufführung. [15575]